Die Wahrheit hat dieser Tage nicht den besten Stand. Seit der Brexit-Bus durch Großbritannien rollte und Donald Trump als 45. Präsident der USA kandidierte, beherrschen Lügen, Bullshit, Fake News und andere Abgründigkeiten das politische Zeitgeschehen. Derart unverhohlen wird die Wahrheit gebogen, dass in den Feuilletons längst vom postfaktischen Zeitalter die Rede ist.
Kaum ist das neue Zeitalter ausgerufen, sind auch schon die Schuldigen ausgemacht. An dem ganzen Malheur seien nämlich die Postmodernisten schuld. Schließlich sei es ein allgemeines Credo des Postmodernismus, dass es so etwas wie „die“ Wahrheit gar nicht gebe. Vielmehr hänge Wahrheit stets von Machtbeziehungen ab, von Sprache, von Weltbildern. Durch dieses Denken sei die Wahrheit über Jahrzehnte hinweg derart in Verruf gekommen, dass nun der Nährboden für eine Politik der Wahrheitsbiegung besser nicht sein könnte. Wer selbst nicht an eine objektive Wahrheit glaubt, hat in der Auseinandersetzung mit den Biegern der Wahrheit wenig Munition.
Das mag alles sein, macht aber einen Nebenschauplatz auf. Die Gretchenfrage unserer Zeit ist nicht, wer an was Schuld ist, was Postmodernisten über Wahrheit denken oder wie sie in der Auseinandersetzung mit Populisten abschneiden. Die Gretchenfrage unserer Zeit ist: Was sollten wir über Wahrheit denken? Und was haben wir den Biegern der Wahrheit eigentlich entgegenzusetzen?
Man muss keine einzige Schrift eines Postmodernisten studiert haben, um diese Fragen herausfordernd zu finden. Gibt es so etwas wie Wahrheit überhaupt? Gibt es nur eine Wahrheit oder viele? Hat nicht am Ende jeder seine eigene Wahrheit? Hängt Wahrheit nicht auch davon ab, was wir für wahr halten? Und wie steht es um Wahrheit in Bereichen, über die wir rein gar nichts wissen können? Vielleicht sind diese Fragen postmodernistisch. In jedem Fall treiben sie ziemlich viele Menschen um, wenn sie sich fragen, was es mit der Wahrheit eigentlich auf sich hat.
Klar ist: Die weit verbreitete Skepsis gegenüber der Wahrheit verträgt sich schlecht mit den gängigen Diagnosen über die Probleme unserer Zeit. Wer lügt, der sagt Unwahres. Wer bullshittet, dem ist die Wahrheit gleichgültig. Wer Fake News verbreitet, bringt Nachrichten in Umlauf, die ein unwahres Bild der Wirklichkeit zeichnen. Wie sollten diese Anschuldigungen gegen die Bieger der Wahrheit aufrechtzuerhalten sein, wenn grundlegende Zweifel daran bestehen, dass es so etwas wie die Wahrheit überhaupt gibt? An welchem Standard messen wir Lügner, Bullshitter und die Verbreiter von Fake News, wenn nicht am Standard der Wahrheit selbst?
Um die Probleme der Gegenwart beim Namen nennen zu können, müssen wir die Wahrheit entmystifizieren. Das geht verhältnismäßig einfach. Aber es erfordert, Abstand von der Idee zu nehmen, bei der Wahrheit handle es sich um eine philosophisch tiefe Angelegenheit. Drei Sätze genügen, um ein Verständnis von Wahrheit zu umreißen, das uns das Rüstzeug gibt, es mit den Biegern der Wahrheit aufzunehmen. Also tief durchatmen, hier kommt die Wahrheit über die Wahrheit.
- Erstens: Wahr ist eine Behauptung, wenn sie die Wirklichkeit korrekt beschreibt.
- Zweitens: Eine Behauptung beschreibt die Wirklichkeit korrekt, wenn das, was sie behauptet, tatsächlich der Fall ist.
- Drittens: Was tatsächlich der Fall ist, hat nichts damit zu tun, wie wir es wahrnehmen oder ob wir Wissen darüber haben.
In einem solchen Bild gibt es zwar viele wahre Behauptungen; wahr ist schließlich alles, was die Wirklichkeit korrekt beschreibt. Was es aber niemals geben kann, sind gegenteilige Behauptungen, die dennoch beide wahr sind. Wenn Sie glauben, dass es regnet, und ich glaube, dass es nicht regnet, dann muss einer von uns falsch liegen. Wenn es regnet, ist Ihre Überzeugung wahr und meine falsch. Wenn es nicht regnet, ist es andersherum. Mehr gibt es über Wahrheit in dem grundlegenden Sinn, um den es hier geht, nicht zu sagen.
Wenn das stimmt, dann gibt es tatsächlich nur eine Wahrheit: Wahr ist, was der Wirklichkeit entspricht. Aussprüche wie „Jeder hat seine eigene Wahrheit“ stellen sich als bloße Redeweisen heraus, die unterschiedliche Bedeutungen haben können: dass jeder die Wirklichkeit auf seine Weise wahrnimmt; dass unterschiedliche Menschen gute Gründe für gegensätzliche Überzeugungen haben; dass am Ende jeder sein eigenes Urteil fällen muss. Was auch immer aber gemeint ist, es hat nichts mit Wahrheit im grundlegenden Sinn zu tun. Denn nichts von dem, was gemeint sein könnte, steht im Konflikt zu der Erkenntnis, dass nur derjenige etwas Wahres denkt, dessen Überzeugungen sich mit der Wirklichkeit decken.
Natürlich stimmt es, dass wir manchmal nicht wissen, ob eine Behauptung die Wirklichkeit korrekt beschreibt. Aber für die Wahrheit der Behauptung ist das unerheblich. Wahrheit im grundlegenden Sinn erfordert nicht, dass wir wissen, ob eine Behauptung wahr ist. Zwei gegensätzliche, gleich gut begründete Behauptungen können miteinander im Wettstreit stehen, ohne dass wir ihre Wahrheit überprüfen könnten. Die Geschichte der Wissenschaften liefert uns dafür haufenweise Beispiele. Das heißt aber nicht, dass keine der beiden Behauptungen wahr ist oder gar dass beide „irgendwie“ wahr sind. Ganz im Gegenteil: Nur eine der Behauptungen kann wahr sein, und zwar diejenige, die die Wirklichkeit korrekt beschreibt. Dass wir die Wirklichkeit nicht kennen, bedeutet lediglich, dass wir nicht wissen, welche der beiden Behauptungen das ist.
Zugestanden: Man muss das alles nicht einkaufen. „Meine Wahrheit, deine Wahrheit“ – wenn man will, kann man daran festhalten, dass diese Redeweise ganz wörtlich verstanden Sinn ergibt. In dem Fall allerdings wird es schwierig zu begreifen, was es heißt, die Wahrheit zu biegen. Es sieht dann nämlich ganz so aus, als hätte der ehemalige republikanische Präsidentschaftskandidat Newt Gingrich einen Punkt gehabt, als er 2016 in einem Interview verlauten ließ, auch wenn die Daten es nicht stützten, sei es eine Tatsache, dass die Kriminalität zugenommen habe. Seine Begründung: Die Leute fühlen es.
Die hässliche Alternative zu einem handfesten Verständnis der Wahrheit sind alternative Fakten.
Dieser Text wird im Herbst 2019 im Programmheft der Münchner Symphoniker erscheinen.