Zwei Überraschungen habe ich vom diesjährigen Kirchentag mitgenommen. Positiv überrascht hat mich, dass sachliche Argumente doch weiter tragen, als ich zu hoffen wagte. Negativ überrascht hat mich, dass überhaupt so viele Argumente von Nöten waren.
Denn der Kirchentag war voll von Menschen, die offen mit der AfD sympathisieren oder aus Überzeugung gar nicht erst wählen gehen. Ich war dort mit einem Stand von Kleiner Fünf – einer Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, rechtspopulistische Parteien mit demokratischen Mitteln und radikaler Höflichkeit unter die Fünf-Prozent-Hürde zu drücken. Es kam zu hitzigen Diskussionen und spannenden Kontroversen – glücklicherweise ohne Wut, Pöbeleien oder Hass.
Mit AfDlern argumentieren
Ein Mann beispielsweise wollte die AfD wählen, weil er (und jetzt folgt seine Argumentation) nicht einsähe, dass er mit nur 50.000 Euro Jahreseinkommen den Höchststeuersatz zahle. Er werde unverhältnismäßig geschröpft, während andere ganz auf Kosten des Staates lebten. Die AfD habe als einzige Partei dieses Problem erkannt und würde im Gegensatz zu allen anderen Parteien daran auch wirklich etwas ändern.
Die Wahl der eigenen argumentativen Strategie
Wie sollte ich reagieren? Zwar zahlt in Deutschland niemand mit 50.000 Euro Jahreseinkommen faktisch den Höchststeuersatz. Doch das wollte er mir nicht glauben. Auch Gerechtigkeitsüberlegungen perlten an ihm ab wie Wasser auf Lack.
Was blieb mir in diesem Fall anderes als an seinen Eigennutzen zu appellieren? In der Tat fordert die AfD einen Einheitssteuersatz, der deutlich geringer als der Höchststeuersatz ist und für alle Einkommen über 20.000 Euro gelten soll. Das führt nun zu einem recht offensichtlichen Problem. Die massiven Steuerausfälle, die dadurch und durch die ebenfalls von der AfD geforderte Absenkung der Mehrwertsteuer (um sieben Prozentpunkte) entstehen würden, müssten an anderer Stelle oder aber durch eine äquivalente Absenkung an Leistungen und Subventionen ausgeglichen werden – Leistungen und Subventionen, von denen auch der Mann vom Kirchentag profitiert, wie er mir offen zustimmte.
Appell an das Eigeninteresse
Was ihn jedoch am ehesten zu überzeugen schien, war mein Argument, dass ihm der von der AfD geforderte Stufentarif, der den momentanen progressiven Steuersatz ersetzen soll, gar nichts nützen würde. Aufgrund der anteiligen Verrechnung der Einkommenssteuer zahlt nämlich selbst jemand, der den Höchststeuersatz zahlt, nur auf einen Bruchteil seines Einkommens tatsächlich 42 Prozent Steuern. Selbst wenn der Mann vom Kirchentag also mit seinen 50.000 Euro Jahreseinkommen den Höchststeuersatz zahlt, dann zahlt er vielleicht auf 500 oder 1.000 Euro seines Jahreseinkommens 42 Prozent; auf den überwiegenden Rest seines Einkommens zahlt er gar nichts oder deutlich weniger – insgesamt vermutlich um die 25 Prozent.
Daran würde sich aber wohl kaum etwas ändern, wenn die AfD ihre Steuerpolitik umsetzen könnte. Denn dann würde er auf einen Großteil seines Einkommens den Höchststeuersatz zahlen müssen. Der AfD-Steuersatz wäre zwar niedriger, würde aber schon sehr viel früher einsetzen – und damit würde die Steuerbelastung des Mannes vom Kirchentag vermutlich nicht viel weniger als die momentanen 25 Prozent betragen. Letztlich bevorzugt die AfD die noch deutlich Wohlhabenderen (bei denen sich die Senkung des Höchststeuersatzes wirklich auszahlt) und erhöht dabei das Risiko aller anderen, in die Armut abzurutschen.
Was können Argumente bewirken?
Nun kann ich mir leider nicht sicher sein, dass ich ihn wirklich überzeugt habe. Aber er schien zumindest inspiriert, eigene Nachforschungen anzustellen. Er war nachdenklich und zog die Möglichkeit, eine andere Partei als die AfD zu wählen, in Betracht.
Man mag nun einwenden, dass wir über das falsche Thema gesprochen haben. Hätte ich ihn nicht eigentlich davon überzeugen müssen, dass es (moralisch) falsch ist, die AfD aus Eigennutz zu wählen – ob der Eigennutz nun real ist oder nicht?
Wir gegen die anderen?
Solche „kalten“ Kosten-Nutzen-Argumente sind nicht jedermanns Sache. Vielleicht wollen manche Menschen gar niemanden überzeugen, der nicht für (die eigenen) Gerechtigkeitsüberlegungen offen ist. Ich kann das gut verstehen. Aber es gibt sie – diese Menschen mit anderen Überzeugungen, mit anderen Wertvorstellungen und anderen Zielen. Und wir leben mit ihnen zusammen. Wir sollten sie dort abholen, wo sie sich befinden!
Wir ändern unsere Werte nicht eben mal so in einem Gespräch. Wir haben viele tiefsitzende Überzeugungen, die sich natürlich langfristig verändern können. Doch seien wir einmal ehrlich, wer hat sich schon jemals von einem Fremden auf der Straße davon überzeugen lassen, dass es moralisch vertretbar ist, Geflüchtete abzuschieben und womöglich verhungern zu lassen (bzw. dass es moralisch geboten ist, sie aufzunehmen, selbst wenn es Millionen werden)?
Was wir in einem Gespräch bewirken können, ist, mit dem Gegenüber ein kleines Stückchen gemeinsamen Grund zu erarbeiten. In einem Gespräch können beide Seiten etwas lernen. In jedem Gespräch. Wenn wir ein paar wenige und einfach zu befolgende Hinweise (zum Beispiel bei Kleiner Fünf, auf ZEIT ONLINE oder hier) berücksichtigen, kann aus einer aggressiven Konfrontation ein konstruktiver Dialog werden.
Wir müssen reden!
Denn fast schlimmer noch als diskussionsfreudige AfD-Sympathisanten scheinen mir diejenigen zu sein, die unreflektiert alles gut finden, was in ihr Überzeugungssystem passt. Wie viel weniger kann ich diejenigen verstehen, die an den Stand von Kleiner Fünf kamen und sich einfach nur kurz ihr Weltbild bestätigen lassen wollten.
Das eigentliche Problem für unsere Demokratie scheinen mir doch diejenigen zu sein, die nicht mehr miteinander reden wollen, die für keine Argumente mehr zugänglich sind und die letztlich allem Pluralismus abgeschworen haben – selbst wenn sie meinen, gegen die Rechtspopulisten und für die Demokratie zu sein.