Der strategische Einsatz von Unbestimmtheit im Recht

Das Grundgesetz besagt, dass die Menschenwürde unantastbar ist. Doch niemand sagt uns, was das konkret heißt und unter welchen Umständen die Menschenwürde angetastet wird. Laut Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) müssen Arbeitsverträge für die Zeit nach dem Studium künftig dem Qualifizierungsziel angemessen sein. Doch was „angemessen“ genau bedeutet, darüber gibt das Gesetz keine Auskunft.

Unbestimmtheit als Strategie

Ist diese Unbestimmtheit im Gesetz einfach nur das Ergebnis schlechter Gesetzgebung oder schlichter Notwendigkeit? Vermutlich nicht. Vermutlich gibt es einen Grund, warum unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln Jahrzehnte und Jahrhunderte der Rechtspraxis überlebt haben. Setzen Gesetzgeber Unbestimmtheit also gezielt ein?

Juristen scheinen eine Art Hassliebe zu sprachlicher Unbestimmtheit zu pflegen. Auf der einen Seite hassen sie Unbestimmtheit, da sie eine Bedrohung für rechtsstaatliche Prinzipien wie den Bestimmtheitsgrundsatz und der Gewaltenteilung darstellt.

Flexibilität durch Unbestimmtheit

Auf der anderen Seite lieben sie Unbestimmtheit. Denn das Recht muss flexibel sein, sagen sie. Es muss sich an die Gegebenheit des Einzelfalls und an sich ändernde soziale und technologische Umstände anpassen lassen können. Völlige Bestimmtheit des Rechts würde es entmenschlichen, sagen manche Rechtstheoretiker. Arthur Kaufmann beispielsweise warnt etwas polemisch davor, dass ein Rechtscomputer, der „nur ein einziges Mal per saecula saeculorum programmiert wird, auch den unerschütterlichsten Positivisten das Gruseln lehren würde.“

Doch warum können überhaupt gewisse Begriffe wie „Menschenwürde“ oder „angemessen“ strategisch eingesetzt werden? Auf welche Weise wird die so oft gepriesene Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Rechts erreicht?

Strategische Unbestimmtheit im Recht

Ich denke, dass dies grundsätzlich auf mindestens fünf verschiedene Weisen möglich ist. Vermutlich ist der häufigste Grund, Unbestimmtheit strategisch einzusetzen, Meinungsverschiedenheiten zu überbrücken. Durch unbestimmte Formulierungen kann zum Teil eine Einigung erzielt werden, die nicht möglich wäre, wenn alle Differenzen explizit wären. Viele Gesetze, internationale Verträge und auch manche Gerichtsurteile kommen nur deshalb zustande, weil manche Punkte nicht präzise bestimmt, also nicht eindeutig entschieden werden.

Ein schönes Beispiel ist der Urteilsspruch in Brown v. Board of Education des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten im Jahr 1955, welcher verfügte, dass die staatlichen Schulen sich „with all deliberate speed“ desegregieren müssen. Chief Justice Earl Warren wollte aufgrund der Brisanz des Falls ein einstimmiges Urteil. Nur durch die Wahl dieser Formulierung konnte er alle Bundesrichter auf Linie bringen.

Entscheidungen auf Gerichte delegieren

Durch Unbestimmtheit kann der Gesetzgeber die nicht zu verhindernde Über- und Unterinklusivität des Rechts mindern. Das heißt, falsch-positive und falsch-negative Fälle können durch die Delegation der Entscheidung an eine besser informierte Partei wie ein Gericht oder eine Behörde verringert werden. In der Tat werden die meisten Gesetze erst von Behörden durch Verwaltungsvorschriften präzisiert und konkretisiert.

Unbestimmtheit kann strategisch eingesetzt werden, um Transaktionskosten zu reduzieren. Gesetzgeber oder Vertragspartner einigen sich bisweilen auf unbestimmte Formulierungen, weil sie erwarten, dass gewisse schwer vorherzusehende oder strittige Punkte zu einem späteren Zeitpunkt mit weniger Aufwand geklärt werden können. Gerade in Verträgen ist dieses Vorgehen oft sinnvoll, da man darauf hoffen kann, dass jene schwer vorherzusehenden und strittigen Eventualitäten gar nicht erst eintreten werden.

Double Talk und Compliance

Diesen drei erst genannten Funktionen ist gemein, dass Unbestimmtheit eine Delegation an eine dritte Partei bzw. einen Aufschub zu einem späteren Zeitpunkt bewirkt. Die beiden folgenden Funktionen sind wesentlich anders.

Unbestimmt formulierte Rechtsäußerungen können als Double Talk verwendet werden. Manche Gesetze, aber auch Gerichtsurteile, sind so politisch brisant, dass durch Unbestimmtheit versucht wird, verschiedene Parteien in der Gesellschaft mit unterschiedlichen Botschaften anzusprechen. Zum Beispiel hat der amerikanische Congress im Jahr 1885 das Alien Contract Labor Law erlassen, welches eine ganze Reihe von unbestimmt definierten Berufsgruppen von der Einreise in die USA ausschloss, aber insgeheim zum Ziel hatte, die Immigration von chinesischen Einwanderern zu verhindern. Während die Rechtsvollstreckung dieses Ziel ungehindert durchsetzen sollte,  wollte der Gesetzgeber die Öffentlichkeit nicht mit einem offen rassistischen Gesetz in Aufregung versetzen.

Unbestimmtheit kann strategisch eingesetzt werden, um die Compliance zu verbessern. Unbestimmte Versicherungsverträge sind ein klassisches Beispiel dafür, aber auch repressive Staaten können Overcompliance durch unbestimmt formulierte Gesetzen erreichen, da die Furcht vor Strafe dazu führt, dass Bürgerinnen und Bürger sich bewusst von jeder potentiell als strafbar bewertbaren Handlung abgrenzen. So definierte der nationalsozialistische Erlass zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung von 1937 jeden als „asozial“ „wer durch sein gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen […] will.“ Nicht ganz unähnlich ächtete das sowjetische Strafrecht „Parasiten“.

Dies ist eine Kurz-Zusammenfassung meines Buches „Strategic Indeterminacy in the Law“.

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David Lanius
Forscher am DebateLab des KIT
David Lanius ist Gründer und Leiter des Forums für Streitkultur sowie Forscher am DebateLab des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf strategischer Unbestimmtheit in Recht und Politik, Populismus, Fake News und den Möglichkeiten und Grenzen von konstruktivem Diskurs.