Im öffentlichen Diskurs wird seit einiger Zeit verstärkt der Ruf nach einer besseren Streitkultur laut. Philosoph*innen sollten da hellhörig werden. Denn wenn sie eines wirklich gut können, dann ist das, sich konstruktiv zu streiten.
Das liegt in der Natur der Sache: Philosophische Fragen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich mit empirischen Mitteln nicht abschließend beantworten lassen. Welche Verteilung von Gütern ist gerecht? Was ist Wahrheit? Was sind die Voraussetzungen für die Freiheit des Willens? Um bei der Beantwortung solcher Fragen überhaupt vom Fleck zu kommen, hilft nur der systematische Streit unter Fachkolleg*innen.
Permanent müssen Philosoph*innen verhandeln, wie das Argument der Gegenseite aussieht und wo genau Dissens besteht.
Manchmal herrscht Uneinigkeit über die Faktenlage, manchmal bei der Gewichtung von Werten. In wieder anderen Fällen wird Evidenzen unterschiedlich viel Gewicht beigemessen, oder hinter einem Argument verbirgt sich ein allgemeines Prinzip, das vom Gegenüber nicht geteilt wird. Fast immer gilt es zu klären, wie die Streitenden Wörter eigentlich verwenden.
Philosoph*innen müssen Meinungsverschiedenheiten also recht methodisch austragen, um der Beantwortung ihrer tatsächlichen Fragen ein Stück näher zu kommen. Dafür hat sich ein ganzes System von Regeln etabliert.
Was den empirischen Wissenschaften die Statistik ist, sind der Philosophie Logik und Argumentationstheorie.
Wo es um eine Verbesserung der Streitkultur geht, wäre ein versierterer Umgang mit Argumenten sicherlich ein erster Schritt. Aber natürlich eignet sich das Studium philosophischer Methodik nicht als Bürgerpflicht. Hilfreich wäre eine Art philosophisches Starter-Kit: eine einfache Anleitung, der man in alltäglichen Auseinandersetzungen folgen kann, um zielführender, konstruktiver und zivilisierter zu streiten.
Erfreulicherweise gibt es dieses Starter-Kit bereits. In seinem Buch „Intuition Pumps and Other Tools for Thinking“ formuliert der US-amerikanische Philosoph Daniel Dennett einige einfache Regeln für den konstruktiven Umgang mit Meinungsverschiedenheiten. Frei nach Dennett folgen Streitende idealerweise zwei Schritten, bevor sie zur Kritik ansetzen.
Im ersten Schritt wird wiederholt, was das Gegenüber gesagt hat.
Dennett schlägt vor, dabei so fair und wohlwollend zu sein, dass das Gegenüber sagen kann: „Danke! Ich wünschte, ich hätte das selbst so gut auf den Punkt gebracht!“
Dahinter verbirgt sich keine Appeasement-Strategie. Vielmehr geht es darum, sicherzustellen, dass man selbst das Argument der Gegenseite wirklich verstanden hat. Andernfalls droht man einem sogenannten „Strohmann“ auf den Leim zu gehen, also eine Position zu kritisieren, die das Gegenüber gar nicht vertritt. Wiederholt man den zentralen Punkt, ist diese Gefahr ausgeräumt.
Im zweiten Schritt wird markiert, in welchen Punkten man dem Gegenüber zustimmt.
Übereinstimmungen gibt es tatsächlich immer. Ich wurde kürzlich in einem Interview gefragt, in welchen Punkten ich einem bekannten Rechtspopulisten zustimmen könne. Ich halte das nicht für eine schwierige Frage. Man teilt vielleicht eine Sorge, oder man ist sich in einigen Sachfragen einig. So abwegig der gegnerische Standpunkt auch erscheint: Die ernsthafte Suche nach Gemeinsamkeiten ist aus argumentationstheoretischer Sicht unabdingbar. Lassen sich keine gemeinsamen Prämissen finden, so wird kein einziges Argument die Gegenseite überzeugen können.
Am Ende darf dann auch bei Dennett kritisiert werden. Aber eben erst dann. Dennett schreibt:
“Only now are you permitted to say as much as a word of rebuttal or criticism.”
In der Sache darf diese Kritik durchaus scharf ausfallen. Das Ganze hat nur einen Haken: Hat man einmal Schritt eins und zwei durchlaufen, könnte man unterwegs festgestellt haben, dass die Argumente der anderen Person gar nicht so schlecht sind, wie man dachte. Anders gewendet:
Man könnte in einem solchen Streit tatsächlich etwas voneinander lernen.
Dieser Artikel wird demnächst in der Imagebroschüre der Humboldt-Universität erscheinen.